Seit Beginn dieses Jahres läuft vor dem Amtsgericht Karlsruhe ein Prozess gegen 24 Fußballfans. Hintergrund ist der Einsatz von pyrotechnischem Material der Fans des Karlsruher SC beim Heimspiel gegen den FC St. Pauli am 20. November 2022. Vorgeworfen wird den Angeklagten fahrlässige Körperverletzung nach § 229 StGB sowie ein Verstoß gegen das Sprengstoffgesetz. Hauptakteur*innen sind jedoch nicht jene Angeklagte, sondern drei Mitarbeiter*innen des Fanprojekts Karlsruhe. Nachdem der Staatsanwaltschaft bekannt wurde, dass die drei Mitarbeiter*innen des Fanprojekts einen geschützten Raum zur Aufarbeitung angeboten und dabei Informationen über mögliche Täter*innen erhalten hatten, wurden diese als Zeug*innen geladen. Die Staatsanwaltschaft erhoffte sich aufgrund der hohen Relevanz der Aussagen einen schnellen Abschluss des Prozesses in ihrem Sinne. Jedoch haben alle drei Mitarbeiter*innen des Fanprojekts bis heute – trotz der Androhung von Ordnungsgeldern, Beugehaft oder Strafanzeigen – keine Aussagen getätigt. So ist zu vermuten, dass sie sich trotz dessen auch in den folgenden Prozesstagen nicht zum Sachverhalt äußern werden. Das Verfahren lässt ein seit langer Zeit diskutiertes strafprozessuales Problem virulent werden: Bedarf es eines Zeugnisverweigerungsrechts für Sozialarbeiter*innen und wie lässt sich ein solches begründen?
„Stopp, sprich jetzt besser nicht weiter!“
Das Verlangen nach einem Zeugnisverweigerungsrecht in der Sozialen Arbeit, wie es aktuell auch von den 71 Fanprojekten in Deutschland gefordert wird, wird durch viele weitere Organisationen wie das „Bündnis für ein Zeugnisverweigerungsrecht“ unterstützt. In einer Vielzahl der Einrichtungen, in welchen Sozialarbeiter*innen tätig sind, wird auf eine Erstreckung des § 53 stopp auf die Soziale Arbeit gedrängt. Bisher steht lediglich Drogenberater*innen in staatlich anerkannten Einrichtungen ein solches Zeugnisverweigerungsrecht zu (KK-Bader, stopp, 9. Aufl. (2023) § 53 Rn. 21a-21c). Für die restlichen Sozialarbeiter*innen besteht gelegentlich in den Arbeitsverträgen eine Verschwiegenheitspflicht als vertragliche Nebenpflicht. Zudem bedroht § 203 StGBdie Offenbarung eines Privatgeheimnisses mit einer Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe. Jedoch schützt weder eine arbeitsvertragliche Pflicht noch die mögliche Strafbarkeit vor einer Aussagepflicht vor Gericht.
Die Fanprojekte arbeiten im Rahmen des Nationalen Konzepts Sport und Sicherheit gemäß der §§ 11, 13 SGB VIII. Dabei handelt es sich um die Grundlage für die Zusammenarbeit von Verbänden, Polizei, Fanprojekten, Kommunen und weiteren Beteiligten rund um das Stadionerlebnis. Ziel ist die Schaffung eines Dialogs, der ein nachhaltiges Netzwerk und eine verantwortungsbewusste Fankultur schafft. Die Mitarbeiter*innen der Fanprojekte sind meist die ersten Ansprechpartner*innen für junge Menschen, die sich in einer (strafrechtlichen) Notlage befinden und keinen familiären Rückhalt haben. Dies gilt nicht nur explizit im Zusammenhang mit dem Thema Fußball, sondern allgemein für alle Lebenssituationen. Die Fußballvereine selbst betonen, wie wichtig die Arbeit für einen friedlichen, gewaltfreien Umgang untereinander sei. Denn es handelt sich um eine „Subkultur“, in der es immer wieder die gleichen Probleme wie Gewalt, Rassismus, Konflikte mit Vereinen und Verbänden oder Verstöße gegen das Sprengstoffgesetz gibt. Die Fanprojekte sehen sich häufig mit denselben Täter*innen und strafrechtlich relevanten Handlungen konfrontiert. Die Arbeit der Fanprojekte wird deshalb teilweise nur als Zubringer zur Strafrechtspflege im Bereich der Ordnungs- und Sicherheitspolitik verstanden. Die Arbeit der Fanprojekte zeichnet sich allerdings durch einen szenenahen und sozialpädagogischen Zugang zu den Fanszenen aus. Dies zeigt sich vor allem in der Präventionsarbeit, die die Sicherheit in den Stadien über die Beziehungen zu den jugendlichen Szenemitgliedern beeinflusst. Explizit im Hinblick auf Gewaltprävention und die Möglichkeit, stetig als Ratgeber zu agieren, wird auf die Fanprojekte gesetzt. Damit können die oben genannten Probleme von vorneherein verringert werden. Ebenso besteht die Möglichkeit, die drohende Zunahme der rechtsextremistischen Orientierung in den Fankurven Deutschlands über die Jugendarbeit für die Zukunft einzudämmen. Diese Ansätze können allerdings nur dann nachhaltig einen positiven Einfluss haben, wenn dahingehend ein volles Vertrauen in alle Mitarbeiter*innen besteht. Dieses ist elementar für die Funktionsfähigkeit der Fanprojekte. Die Arbeit mit vornehmlich Jugendlichen erfordert Feingefühl und eine enge Bindung, die stetig durch gemeinsame Veranstaltungen und Gespräche innerhalb der Fanprojekte gefördert werden muss. Diese durch das Risiko zu behindern, die persönlichen Ansprechpartner*innen könnten gerichtlich zu einer Aussage verpflichtet werden, hindert die Personen, die sich an die Fanprojekte wenden, zunehmend daran, sich frei und ohne Ängste anzuvertrauen. Der immer unterschwellig bestehende Gedanke, man könne nicht unbedacht ein Gespräch führen, hindert auch die Sozialarbeiter*innen. Sie können ihre Arbeit nicht den Erwartungen entsprechend ausführen, wenn das fachgerechte Erfüllen des Auftrags den Sozialarbeiter*innen die Freiheit kosten könnte. Der Anspruch, den Jugendlichen aus einer Situation zu helfen und diese auf den richtigen Weg zu leiten, kann damit nicht vollständig eingehalten werden. Ein intensiver Reflexionsprozess der Beteiligten einer strafrechtlich relevanten Situation kann nur angeregt werden, wenn diese gemeinsam in einem Gespräch ihr Verhalten überdenken und folgend verbessern können. Weiterhin wird durch die Fanprojekte ermöglicht, Konflikte mit der Gegenseite, also Mitgliedern des Vereins oder geschädigten Personen, nachhaltig zu lösen. All dies kann jedoch nur erfolgen, wenn Sozialarbeiter*innen in einem bestehenden Vertrauensverhältnis ehrliche Gespräche mit dem Gegenüber führen können. Ein Wegfall des Einflusses der Fanprojekte hätte weitreichende negative Folgen in Bezug auf Straftaten und Diskriminierung.
Der Satz „Stopp, sprich jetzt besser nicht weiter“ signalisiert den Abbruch einer Beratungssituation, der den gesamten Effekt des Gesprächs hinfällig und die Arbeit der Fanprojekte nutzlos werden lässt.
Verdeckung von Straftaten?
Die Forderung nach einem Zeugnisverweigerungsrecht erhält nicht nur Zuspruch, sondern ist auch Gegenstand von Kritik. Der Gedanke hinter § 53 StPO ist der Schutz des Vertrauensverhältnisses von festgelegten Berufsgruppen und denen, die die Sachkunde der Angehörigen dieser Berufsgruppen in Anspruch nehmen. Um aber eine funktionsfähige Strafrechtspflege sicherzustellen, ist der Katalog der zeugnisverweigerungsberechtigten Berufsgruppen auf solche beschränkt, in denen das nötige Vertrauensverhältnis das Allgemeininteresse an der effektiven Strafverfolgung in hohem Maße übersteigt.
Die Notwendigkeit einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege ergebe sich aus dem Rechtsstaatsprinzip in Artikel 20 Abs. 3 GG, welches die Wahrung der Gerechtigkeit als wesentlichen Bestandteil beinhalte. Sie könne nicht gewährleistet werden, wenn die Möglichkeiten zur Wahrheitsfindung nicht umfassend genutzt und ausgeschöpft werden können (BVerfG NJW 1972, 2214). Die Erweiterung des Zeugnisverweigerungsrechts auf weitere Berufsgruppen fördere diese Probleme. Durch die Schweigepflicht aus § 203 StGB werde allein die Offenbarung von Geheimnissen bedroht und nicht die Erlangung jeglicher Tatsachen bei der Berufsausübung.
Für das Bestehen eines Zeugnisverweigerungsrechts wäre erforderlich, dass die Nutzung der Aussagen der Sozialarbeiter*innen in den grundrechtlich geschützten Bereich der privaten Lebensführung nach Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG eingriffe (BVerfG NJW 1972, 2214). Dabei handelt es sich um die Intimsphäre jedes Einzelnen, die als Ausgestaltung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts vor sämtlichen Eingriffen geschützt ist. Als gemeinschaftsgebundener Teil der Gesellschaft müsse ein Bürger bzw. eine Bürgerin staatliches Handeln jedoch hinnehmen, wenn es im Interesse der Allgemeinheit stehe und nicht den absolut unantastbaren Lebensbereich eines Menschen, die Intimsphäre, betreffe (BVerfG NJW, 1972, 2214, 2215). Dieser unantastbare Lebensbereich sei im Fall der Fanprojekte nicht betroffen, sodass der Zugriff der öffentlichen Gewalt nicht ausgeschlossen werden könne. Im Vergleich zu den anderen in § 53 StPO genannten Berufsgruppen begründe das Berufsbild der Sozialarbeiter*innen kein höchstpersönliches, grundsätzlich keine Offenbarung duldendes Vertrauensverhältnis (BVerfG NJW 1972, 2214, 2215).
Sofern den Jugendlichen die Möglichkeit gegeben wird, ihre Taten gegenüber den Sozialarbeiter*innen zu gestehen und aufzuarbeiten, sei nicht garantiert, dass eine Verhaltensverbesserung stattfinde. Sofern eine Tat nicht abgeurteilt werde, bestehe bei folgenden Taten keine Möglichkeit zu einer strafrechtlich exakten Beurteilung. Dies werde durch das Zeugnisverweigerungsrecht in der Sozialen Arbeit weiter bestärkt. Damit bestehe die Möglichkeit das Justizsystem zu umgehen und über die Arbeit mit Sozialarbeiter*innen Taten zu verdecken, ohne dass eine Besserung des Verhaltens auftrete. Dass die erbrachte Arbeit bahnbrechende Verbesserungen schaffe, sei nicht zu erwarten, sodass Straftäter*innen zumindest zunächst ungeahndet immer wieder straffällig werden könnten.
Ist es Zeit für ein Zeugnisverweigerungsrecht für Soziale Arbeiter*innen?
Die Frage, ob ein solches Zeugnisverweigerungsrecht in der Form, wie es für andere Berufsgruppen gilt, für die Soziale Arbeit eingeführt werden soll, erfordert eine breit gedachte Abwägung aller angesprochenen Gesichtspunkte.
Es muss gewährleistet werden, dass die Arbeit in den Fanprojekten weiterhin fachgerecht erfüllt werden kann. Gerade für Jugendliche der Fanszene, die eine eher zurückhaltend-misstrauische Einstellung gegenüber Staat und Polizei haben dürften, ist es nötig Bezugspersonen zu haben, die nicht mit den staatlichen Institutionen in Verbindung gebracht werden. Die Fanprojekte können präventiv und im Nachgang reflektierend mit den betroffenen arbeiten, während Polizei, Staatsanwaltschaft und Gerichte regelmäßig keine entsprechenden Kapazitäten haben werden. Eine prozessual vorrangige Aussagepflicht behindert eine möglichst nachhaltige Einwirkung auf die Jugendlichen durch Sozialarbeiter*innen.
Andererseits ist zu bedenken, dass im Kontext des Fußballs sehr viele Straftaten begangen werden, egal ob es sich dabei um den Einsatz von Pyrotechnik, Körperverletzung oder Landfriedensbruch handelt. Die Täter*innen fallen oft wiederholt auf und reagieren auf die Ansprache der Justizbehörden vergleichsweise unempfindlich. Insoweit scheint es im Blick auf das Rechtsstaatsprinzip bedenklich, wenn insbesondere bei schweren Verletzungen von Individual- oder Kollektivrechtsgütern eine allzu ausgreifende Gewährung von Zeugnisverweigerungsrechten die Wahrheitsfindung und letztlich die staatliche Reaktion mit den Mitteln des Strafrechts verhindert oder substanziell erschwert.
Gleichwohl bleibt zu bedenken, dass ein am präventiven Rechtsgüterschutz ausgerichtetes Strafrecht den eigenen Zweck konterkarierte, wenn die unbedingte Durchsetzung des Strafanspruchs eine nachhaltige Einwirkung auf die Täter*innen verhinderte. Ein Mittelweg könnte in der Etablierung eines trägerspezifischen Antragsverfahrens liegen. Danach könnten Träger, die eine Beschäftigung im Arbeitsfeld der Sozialarbeit nachweisen und staatlich anerkannte Sozialarbeiter*innen in diesem Arbeitsfeld beschäftigen, gerichtlich erläutern, aus welchem Grund ein erheblicher Vertrauensverlust die Beratungsarbeit ohne ein Zeugnisverweigerungsrecht nahezu unmöglich mache. Dabei bedarf es einer genauen Abwägung, die beurteilt, ob das Schutzgut der Sozialarbeiter*innen, welches in der Vertrauenswahrung liegt, in einer bestimmten Einrichtung höher zu beurteilen ist als das rechtsstaatliche Schutzgut der staatlichen Straftatenaufklärung. Durch eine solche Abwägung wäre gewährleistet, dass in angemessenen Fällen ein Zeugnisverweigerungsrecht bestehen kann. Ein Zeugnisverweigerungsrecht würde also nur ausgewählten Einrichtungen gewährt werden, weil sie nach bestimmten, festgelegten Kriterien arbeiten.
Der derzeitige Rechtszustand wird der Bedeutung der sozialen Arbeit in der „Subkultur“ Fanszene nicht gerecht. Bei dieser handelt es sich um eine von außen nicht ohne Weiteres durchdringbare Gemeinschaft. Fanprojekte leisten insoweit wichtige Präventionsarbeit und können zugleich im Rahmen einer Diversion unterstützend tätig werden. Dafür sind sie jedoch auf die Schaffung einer Vertrauensbasis angewiesen, die durch das fehlende Zeugnisverweigerungsrecht in Frage gestellt wird. Eine Abwägung der widerstreitenden Interessen spricht für den skizzierten Mittelweg des trägerspezifischen Antragsverfahrens.
stud. iur. Gioia Körfer
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