24. Februar 2022 – Der Tag, an dem Russland seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine eskalierte, in dem nahezu täglich(S.278-281) Völkerrechtsverbrechen begangen werden. Da verwundert es zunächst nicht, dass der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) im März 2023 einen Haftbefehl gegen Putin erließ. Sieht man sich diesen jedoch genauer an, könnte man irritiert darüber sein, dass der Haftbefehl auf dem Verdacht des Kriegsverbrechens der rechtswidrigen Überführung der Bevölkerung – hier Kindern – und der Vertreibung aus der Ukraine in die russische Föderation beruhte. Er erging nicht – wie man es erwarten würde – aufgrund des gegen die Ukraine gerichteten Angriffs. Damit bleibt das Verbrechen der Aggression in diesem Haftbefehl unberücksichtigt. Der Tatbestand der Aggression, der 2010 durch die Kampala Beschlüsse eingeführt und 2017 in das IStGH-Statut aufgenommen wurde, ist bisher und auch diesmal nicht vom IStGH angewandt worden.

Diese Lücke in der strafrechtlichen Verfolgung wirft grundlegende Fragen zur Effektivität des internationalen Strafrechts auf. Dabei zeigen sich Probleme sowohl in der Zuständigkeit des IStGH für das Verbrechen der Aggression als auch im Tatbestand selbst. Auch das Untätigbleiben nationaler Gerichte – insbesondere im Hinblick auf die Immunität von hochrangigen Staatsoberhäuptern – macht die Lage komplex. Da die naheliegende und international diskutierte Lösung, nämlich die Schaffung eines Sondertribunals, nicht das Kernproblem beseitigt, besteht Reformbedarf.

Die Definition des Verbrechens der Aggression

Der Tatbestand des Verbrechens der Aggression findet seinen Ursprung im Statut des Internationalen Militärgerichtshof, im Nürnberger Urteil gegen die Hauptkriegsverbrecher, den Nürnberger Prinzipien von 1950 und der Resolution der UN-Vollversammlung von 1974, in der die heute allgemein anerkannte Definition der Aggression erstmals formuliert wurde. Sie diente als Grundlage dafür, den Tatbestand der Aggression im IStGH-Statut unter Strafe zu stellen. 

Dem Wortlaut nach ist das Verbrechen der Aggression in Art.8bis Abs.1 IStGH-Statut nur unter Strafe gestellt, wenn die Angriffshandlung „ihrer Art, ihrer Schwere und ihrem Umfang nach eine offenkundige Verletzung der Charta der Vereinten Nationen darstellt.“ Somit fällt nicht jede zwischenstaatliche Gewaltanwendung unter den Tatbestand der Norm. Darunter werden nur völkerrechtswidrige Gewaltanwendungen erfasst (Trifterer/Ambos in Zimmermann/Freiburg, Rome Statute, 3. Auflage (2016), Art. 8 bis Rn. 87). Überdies setzt der Tatbestand das Überschreiten einer Mindestschwelle voraus. So setzt die „offenkundige Verletzung“ der Charta voraus, dass sich der Charakter, die Schwere und das Ausmaß der Gewaltanwendung als besonders schwerwiegend darstellen. Weiterhin ist der Täterkreis gemäß Art. 25 Abs. 3bis IStGH-Statut auf politisches oder militärisches Führungspersonal begrenzt (Werle/Jeßberger, Völkerstrafrecht, 5. Auflage (2020), Rn. 1605, 1538). Der materiell-rechtliche Schwellenmaßstab des Verbrechens der Aggression ist hoch angesetzt, um völkerrechtliche Grenzfälle auszuschließen (Werle/Jeßberger, Völkerstrafrecht, 5. Auflage (2020), Rn. 1602; Trifterer/Ambos in Zimmermann/Freiburg, Rome Statute, 3. Auflage (2016), Art. 8 bis Rn. 52 ff.).

Im Fall des Angriffskriegs Russlands gegenüber der Ukraine gibt es freilich kaum Zweifel an einer Verwirklichung des Tatbestandes. Und doch kann der IStGH ausgerechnet wegen des Verbrechens der Aggression nicht gegen Putin einschreiten.

Der IStGH – ein zahnloser Tiger?

Der IStGH wurde 1998 gegründet und wird gegen natürliche Personen gem. Art.25 (1) wegen der vier schwersten Verbrechen des Völkerstrafrechts tätig: Verbrechen des Völkermordes, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und das Verbrechen der Aggression (vgl. Art. 5 Abs.1 IStGH-Statut). Das Verbrechen der Aggression wurde erst durch die Kampala-Beschlüsse in 2010 definiert, sodass das Kernverbrechen zunächst im Wartezustand war und erst 2017 konturiert wurde. Beim IStGH gilt außerdem der Grundsatz der Komplementarität, wonach der Internationale Strafgerichtshof nur tätig wird, sofern kein Vertragsstaat Ermittlungen oder eine Strafverfolgung durchführt (Art. 17 Abs.1 IStGH-Statut, vgl. SchallerSWP-Studie, S. 12).

Grundsätzlich ist die Zuständigkeit des IStGH auf Taten beschränkt, die auf dem Territorium eines Vertragsstaates oder durch Staatsangehörige eines Vertragsstaates begangen wurden. Jedoch ist die Zuständigkeit des IStGH beim Verbrechen der Aggression stärker begrenzt. Diese ist nur dann gegeben, wenn der Staat, dessen Staatsangehörigkeit der Beschuldigte hat, Vertragsstaat des IStGH-Statuts ist (bei Nicht-Vertragsstaaten ist die Zuständigkeit somit ausgeschlossen, S. 617) oder die Situation dem IStGH vom UN-Sicherheitsrat überwiesen wird (Art. 13 Abs. 2 (b) IStGH-Statut). Bezüglich der Überweisung vom UN-Sicherheitsrat ist zu beachten, dass den fünf ständigen Mitgliedern des UN-Sicherheitsrates, China, Frankreich, Russland, Großbritannien und den Vereinigten Staaten von Amerika, jeweils ein Veto-Recht zusteht. Wird dieses Veto eingelegt, so wird der zur Abstimmung stehenden Resolution oder Entscheidung insgesamt nicht zugestimmt. 

Da Russland kein Vertragsstaat des IStGH-Statuts ist und eine Überweisung durch den UN-Sicherheitsrat durch sein Veto jederzeit blockieren kann, wird sich die Zuständigkeit des Gerichtshofs für das Verbrechen der Aggression kaum begründen lassen. Der IStGH ist also in genau solchen Konstellationen verhindert, seine Gerichtsbarkeit auszuüben und stößt daher bezüglich seiner Kompetenz über das Verbrechen der Aggression an seine Grenzen.

Untätigbleiben nationaler Gerichte und Putins Immunität

Weil der IStGH nur (sehr) begrenzten Handlungsspielraum hat, liegt der Blick auf die nationalen Gerichte nahe. Nach dem für Völkerrechtsverbrechen grundsätzlich geltenden Universalitätsprinzip dürfte zwar jeder Staat seine Jurisdiktion wegen solcher Verbrechen ausüben. Allerdings bestehen bezüglich des Verbrechens der Aggression Zweifel daran, dass auch dieses dem Universalitätsprinzip unterfällt. Vor diesem Hintergrund erklärt sich auch die gesetzliche Einschränkung des Universalitätsprinzips für das Verbrechen der Aggression in § 1 Satz 2 VStGB. Danach ist der Anwendungsbereich des § 13 VStGB hinsichtlich Auslandstaten auf solche beschränkt, in denen der Täter die deutsche Staatsangehörigkeit hat oder in denen sich die Tat gegen die Bundesrepublik Deutschland richtet. Mit Ausnahme der Ukraine fallen staatliche Gerichte schon unter diesem Gesichtspunkt als forum aus.

Zudem bestehen Jurisdiktionshindernisse aufgrund der Immunität Putins. Staats- und Regierungschefs sowie Außenminister*innen genießen sogenannte personelle Immunität. Während ihrer Amtszeit sind sie daher vor ausländischer Strafgerichtsbarkeit geschützt, unabhängig davon, ob sie in offizieller Eigenschaft oder privat gehandelt haben – und zwar auch in Fällen von Völkerrechtsverbrechen (ICJ, Arrest Warrant, 11.04.2000, Democratic Republic of the Congo vs. Belgium, Judgement of 14.02.2002, Rn.60 ff.). Dadurch sollen Staaten in Bezug auf ihre internationalen Beziehungen handlungsfähig bleiben. 

Nach Ende der Amtszeit bildete die Immunität zwar kein Verfahrenshindernis mehr, da die dann allein anwendbare sogenannte funktionelle Immunität in Fällen von Völkerrechtsverbrechen keine Anwendung findet (BGH, Urt. v. 28.01.2021 – 3 StR 564/19, Leitsatz 1). Der Bundesgerichtshof hat diesen Grundsatz – zumindest indirekt – auch auf das Verbrechen der Aggression erstreckt (siehe auch Jeßberger/Epik, JR 2022, 14). Jedenfalls nach Ende seiner Amtszeit könnte sich Putin vor staatlichen Gerichten, also auch in der Ukraine, verantworten müssen – allerdings, und das ist tragisch, wohl eher nicht für das Verbrechen der Aggression.

Sondertribunal – eine nicht zufriedenstellende Lösung

Die oben genannten Hürden und die daraus folgende begrenzte Zuständigkeit des IStGH lassen einen nicht optimistisch in die Zukunft blicken. Der Wille, eine Lösung zu finden, um die begrenzte Zuständigkeit zu ändern, ist groß und viele Ideen (S.4) kommen dabei infrage. Am ehesten scheint aber die Schaffung eines Sondertribunals vermittelbar, welches über das Verbrechen der Aggression urteilen könnte. Solch ein Tribunal könnte eine wirksame Abschreckungswirkung(S.11) für das Verbrechen der Aggression entfalten. Die Umsetzung eines solchen Sondertribunals ist auf unterschiedlichen Wegen denkbar. So könnte ein hybrides nationales Tribunal, ein von der UN geschaffenes internationales Tribunal oder aber ein von einer großen Zahl gleichgesinnter Staaten geschaffenes internationales Gericht die Aufgabe der Strafverfolgung übernehmen.

Bezüglich der erstgenannten Möglichkeit kommt ein Sonderstrafgerichtshof in der Ukraine in Betracht. Dabei werden nationale Gerichte internationalisiert. Beispiele für solche hybriden nationalen Tribunale gab es in der Vergangenheit bereits und existieren teils noch heute, wie etwa das Kosovo Tribunal. Solch ein hybrides Gericht, das mit internationalen Richter*innen besetzt wird und über internationale Verbrechen urteilt, käme grundsätzlich auch für die Ukraine in Betracht. In der Realität bestehen freilich erhebliche Hürden: Erstens wird die Ukraine zurzeit kaum die Mittel und insbesondere die Zeit haben, um ein entsprechendes hybrides Gericht zu schaffen. Wenn überhaupt, kommt dies erst in der Zukunft infrage. Zweitens müsste eine Änderung der ukrainischen Verfassung erfolgen. Zudem wäre ein Sondertribunal dieser Art nicht geeignet, Putin unmittelbar zur Verantwortung zu ziehen, da er sich wohl auch gegenüber einem solchen auf Immunität berufen (S.3) könnte. 

Im Hinblick auf ein von dem UN-Sicherheitsrat geschaffenes Sondertribunal ergeben sich dieselben Herausforderungen, die auch einer Überweisung an den IStGH entgegenstehen. Denn auch insoweit könnte ein Veto Russlands die entsprechende Resolution blockieren (Rn.13).

Dementsprechend scheint nur die Schaffung eines Sondertribunals durch die UN-Generalversammlung oder den Zusammenschluss einer substanziellen Anzahl von Staaten erfolgversprechend. Ganz nach dem Vorbild des Sierra Leone Tribunals könnte die Ukraine einen bilateralen Vertrag mit dem UN-Generalsekretär schleißen. Der Weg über die UN dürfte aber auch hier an einem russischen Veto scheitern. Die Lösung über einen multilateralen Vertrag wiederum wirft erhebliche Legitimationsfragen auf: Können Staaten die Immunität Putins tatsächlich auf diesem Wege umgehen? Wie groß müsste die Zahl der Staaten sein, die sich beteiligen? Werden sich die Staaten auf ein solch riskantes Unternehmen einlassen? Diese Fragen sind offen.

Hinzu kommt, dass die Schaffung eines speziellen Gerichts für eine konkrete Situation keine nachhaltige Lösung verspricht. Künftige Aggressionsverbrechen von Nicht-Vertragsstaaten des IStGH wären weiterhin nicht justiziabel.

Ernüchternde Erkenntnis

Aus den vorhergehenden Überlegungen ergibt sich die ernüchternde Erkenntnis, dass der IStGH hinsichtlich des Verbrechens der Aggression zumindest in bestimmten Situationen an seine Grenzen stößt. Insbesondere die zusätzlichen Voraussetzungen für eine Zuständigkeit des IStGH schränken den Handlungsspielraum des Gerichts erheblich ein. So bleiben Völkerrechtsverbrecher, deren Staat nicht Vertragspartei des IStGH-Statuts ist, hinsichtlich des Verbrechens der Aggression letztlich straffrei, selbst wenn sie IStGH-Vertragsstaaten angreifen.

von stud. iur. Maria Vogiatzis