Nach § 32 StGB ist gerechtfertigt und handelt damit nicht rechtswidrig, wer eine Tat begeht, die durch Notwehr geboten ist. Die Notwehrhandlung muss erforderlich sein, um einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff abzuwenden. Hierbei stellt sich jedoch immer wieder die Frage, wann ein Angriff gegenwärtig ist und aus welcher Perspektive die Gegenwärtigkeit zu beurteilen ist. Insbesondere in Situationen, in denen bereits eine Verletzungshandlung stattgefunden hat und der Angegriffene auf diese reagiert, kann die Gegenwärtigkeit des Angriffs infrage gestellt werden. Zudem können zu einer Verteidigungsabsicht auch weitere Motive wie etwa Wut, Vergeltung oder Rache hinzutreten. Fraglich ist hierbei, wie sich diese auf das subjektive Rechtfertigungselement auswirken. Der 4. Senat des Bundesgerichtshof (BGH) hat in seinem Urteil vom 16. März 2023 – BGH 4 StR 252/22 zu diesen Fragen Stellung bezogen.
Der Sachverhalt
Der Entscheidung lag folgender Sachverhalt zugrunde: Seit Anfang 2018 kam es häufiger zu Auseinandersetzungen zwischen dem 15-jährigen Angeklagten A und seinem Stiefvater, dem Geschädigten G, bei denen beide zum Teil auch körperlich übergriffig wurden. Am Abend des 03.07.2021 verließ A die Wohnung. G bemerkte, dass sein Stiefsohn absprachewidrig in seinem Zimmer gegessen hatte, weshalb er aus Wut die Klingel abstellte und den Ersatzschlüssel entfernte. Nachdem A nach seiner Rückkehr gegen 22:30 Uhr mehrmals klopfte, öffnete der leicht alkoholisierte G die Tür und es kam zu einem Streit. In der Auseinandersetzung beleidigte G den A mehrmals, woraufhin dieser mit „Halts Maul“ reagierte. G erwiderte darauf „Ich geb‘ dir gleich Halts Maul“ und folgte A ins Obergeschoss. Dieser erwartete aufgrund der Äußerung einen Angriff von Seiten des G, weshalb er sich in der Küche mit einem Messer bewaffnete, um sich zu verteidigen. Er forderte den hinter ihm stehenden G auf, wegzugehen. Dieser reagierte auf die Aufforderung jedoch nicht. Als A sich mit dem Messer in der Hand umdrehte, verpasste G ihm eine Ohrfeige. Daraufhin stach A dem G mit bedingtem Tötungsvorsatz und in Verteidigungsabsicht das Messer in den linken Oberbauch. Dieser trat zunächst einen Schritt zurück, bewegte sich dann aber mit nach vorne gebeugten Schultern wieder auf den A zu. Er hatte dabei nicht die Arme gehoben oder die Hände zu einer Faust geballt. Dennoch ist nicht auszuschließen, dass es zu weiteren Schlägen gekommen wäre. Aus Furcht und in Verteidigungsabsicht stach A in den oberen rechten Brustkorb des G. G erlitt Verletzungen an den Rippen und am Herzen, an denen er schließlich verstarb. Das Landgericht Kaiserslautern, das erstinstanzlich zu entscheiden hatte, kam zu dem Ergebnis, dass der Angeklagte durch Notwehr nach § 32 StGB gerechtfertigt und somit freizusprechen sei.
Was sagt der BGH?
Der BGH stimmte dem Landgericht in seiner Entscheidung zu und wies die von der Staatsanwaltschaft eingelegte Revision mit folgender Begründung zurück: Es sei nicht auszuschließen, dass sich der Angeklagte im Zeitpunkt beider Messerstiche in einer Notwehrlage befunden habe. In den Beleidigungen des G läge zwar kein gegenwärtiger Angriff, da hierfür erst der Rahmen eines Wortgefechts überschritten werden müsse (vgl. auch BGH, Urt. v. 30.03.2022 – 2 StR 263/21 Rn.24). Jedoch stelle die Ohrfeige einen rechtswidrigen Angriff auf die körperliche Unversehrtheit des A dar. Zudem sei nicht klar, welche genauen Absichten der G nach der Ohrfeige gehabt habe. In dubio pro reo müsse deswegen von der für den A günstigsten Möglichkeit ausgegangen werden (mit Verweis auf BGH, Urt. v. 22.02.2022 – 6 StR 493/21 Rn.12). Bei der Bestimmung der Notwehrlage sei die objektive Sachlage maßgeblich. Laut BGH sei auf die tatsächlichen Absichten des Angreifers und die von ihm ausgehende Gefahr einer Rechtsgutverletzung abzustellen. Eine subjektive Befürchtung, dass ein Angriff unmittelbar bevorstehe, genüge hingegen nicht für die Begründung der Notwehrlage. Somit sei anzunehmen, dass vor beiden Stichen ein weiterer Schlag unmittelbar bevorstand und der Angeklagte sich in einer Notwehrlage befand.
Des Weiteren habe der Angeklagte beide Male handlungsleitend mit Verteidigungswillen agiert. Auch wenn weitere Bewegründe wie Wut, Vergeltung oder Verärgerung hinzuträten, sei ein Verteidigungswille als relevantes Handlungsmotiv anzuerkennen. Dies gelte nur dann nicht, wenn die übrigen Beweggründe so dominant seien, dass der Verteidigungswille in den Hintergrund trete und ein Abwehrverhalten kaum mehr vorhanden sei (mit Verweis auf BGH, Urt. v. 25.04.2013 – 4 StR 551/12 Rn.20).
Eine Frage der Perspektive
Die Entscheidung des BGH befasst sich unter anderem mit der Frage, wann ein Angriff gegenwärtig ist. Ein Angriff ist gegenwärtig, wenn er unmittelbar bevorsteht, gerade stattfindet oder noch fortdauert (vgl. Rengier, Strafrecht AT, 15. Auflage (2023), § 18 Rn. 19). Im vorliegenden Fall hatte G dem A gerade eine Ohrfeige gegeben, welche aber zum Zeitpunkt der Notwehrhandlung abgeschlossen war. Nach einer bereits begangenen Verletzungshandlung dauert der Angriff laut der Entscheidung des BGH jedoch so lange an, wie mit einer Wiederholung zu rechnen und ein erneutes Umschlagen in eine Verletzungshandlung unmittelbar zu befürchten sei.
Auch die Literatur teilt die Ansicht des BGH bezüglich des Fortdauerns eines Angriffs (vgl. Wessels/ Beulke/ Satzger, Strafrecht AT, 52. Auflage (2022), § 10 Rn. 498). Dabei sei auf die andauernde Rechtsgutverletzung abzustellen, nicht auf die Wirkung des vorangegangenen Angriffs (vgl. Rengier, Strafrecht AT, 15. Auflage (2023), § 18 Rn. 23). Der Verteidiger muss sich demnach in einer noch andauernden Bedrohungslage befinden. Eine bloße Reaktion auf einen Angriff mit einer Gegenreaktion ist somit nicht mehr vom Notwehrrecht gedeckt.
Problematisch kann jedoch sein, dass es für den Angegriffenen in der konkreten Situation Schwierigkeiten bereiten kann einzuschätzen, ob ein weiteres Mal angegriffen werden soll.
Obwohl im vorliegenden Fall keine eindeutigen Anzeichen dafür vorlagen, dass G erneut angreifen würde, befand er sich dennoch in unmittelbarer Schlagdistanz zu A, was A veranlasste, die Befürchtung eines weiteren Angriffs zu hegen. In solchen Situationen entsteht die Frage, aus welcher Perspektive die Gegenwärtigkeit des Angriffs zu bewerten ist. Der BGH betrachtet die Gegenwärtigkeit der Sachlage aus einer objektiven ex-post Perspektive. Entscheidend seien die tatsächlichen Absichten des Angreifers, weshalb eine Wiederholungsabsicht erkennbar sein müsse. Eine subjektive Befürchtung des Verteidigers, dass ein weiterer Angriff unmittelbar bevorstehe, reiche hingegen nicht aus.
Sollte der Verteidiger allerdings irrig von dem Vorliegen einer Notwehrlage ausgehen, könne er sich auf einen Erlaubnistatbestandirrtums berufen (vgl. Rengier, Strafrecht AT, 15. Auflage (2023), § 30 Rn. 1).
Nach der Gegenauffassung müsse eine Wiederholungsabsicht des Angreifers dagegen nicht vorliegen. Vielmehr soll die Gegenwärtigkeit anhand einer objektiven ex ante-Betrachtung aus der Perspektive des Verteidigers bestimmt werden. Entscheidend sei also, ob ein verständiger Beobachter anstelle des Verteidigers von einem weiteren Angriff ausgehen durfte. Unklarheiten über das Fortdauern des Angriffs müssten zu Lasten des Angreifers gehen, denn dieser habe schließlich die Unübersichtlichkeit der Lage durch sein rechtswidriges Verhalten geschaffen (MüKo-Erb, StGB, 4. Aufl. (2020), § 32 Rn. 104, 111).
Für diese Ansicht könnte zunächst sprechen, dass es schwierig ist, die Absichten des Täters im Nachhinein zuverlässig zu bestimmen. Insbesondere dann, wenn der Angreifer – wie auch im vorliegenden Fall – verstirbt und sich nicht mehr zu seinen Absichten äußern kann.
Jedoch verfängt das Argument nicht, da bei einer solchen unklaren Situation durch die Anwendung des in dubio pro reo Grundsatzes eine objektive Notwehrlage dennoch bejaht werden kann. Ein Nachteil für den Verteidiger entsteht in diesem Fall also nicht. Das Erfordernis, die Gegenwärtigkeit aus der ex-ante Verteidigersicht zu betrachten, um Schwierigkeiten der Bestimmung zu seinem Nachteil zu vermeiden, besteht folglich nicht.
Zudem stünde diese Ansicht im Widerspruch zur Herangehensweise zur Beurteilung des rechtswidrigen Angriffs, der nach überwiegender Ansicht ex-post und nicht ex-ante beurteilt wird (vgl. Rengier, Strafrecht AT, 15. Auflage (2023) § 18 Rn. 12; MüKo-Erb, StGB, 4. Aufl. (2020), § 32 Rn. 104).
Auch wenn damit gute Argumente für die Ansicht des BGH sprechen, könnte ein Perspektivwechsel dennoch sinnvoll sein, um eine sachwidrige Umkehr des Rechtswidrigkeitsurteils zum Nachteil des Angegriffenen zu vermeiden. Wenn nämlich der Angreifer nach mehreren aufeinanderfolgenden rechtswidrigen Angriffen den nach außen hin nicht erkennbaren Entschluss fasst, diese zu beenden, könnte der Verteidiger dennoch nachvollziehbar von einem Fortdauern ausgehen. Nach der Rechtsprechung wäre seine Gegenwehr dann nicht mehr durch Notwehr gedeckt. Durch die Anwendung des Erlaubnistatbestandsirrtums hätte der Verteidiger zwar nach überwiegender Ansicht schuldlos, aber dennoch objektiv rechtswidrig gehandelt. Zudem stünde dem Angreifer dann wiederum ein eingeschränktes Notwehrrecht gegenüber dem vormals Angegriffenen zu (vgl. MüKo-Erb, StGB, 4. Aufl. (2020), § 32 Rn. 104). Mit einer ex-ante Betrachtung aus Sicht des Verteidigers kann dieses Problem vermieden werden.
Dem kann aber wiederrum entgegengehalten werden, dass durch das Vorliegen des Erlaubnistatbestandsirrtums der Verteidiger keinen unangemessenen Nachteil erfährt. Geht dieser irrig von einem Fortdauen des Angriffs aus, scheidet seine Bestrafung wegen des vorsätzlichen Delikts aus. Zwar bleibt der Angriff objektiv rechtswidrig. Diese Umkehr des Rechtswidrigkeitsurteils geht aufgrund des Erlaubnistatbestandsirrtums allerdings nicht zum Nachteil des Angegriffenen. Das eingeschränkte Notwehrrecht ist nach den hierzu entwickelten Grundsätzen hinzunehmen, da es bei objektivem Fehlen der Gegenwärtigkeit nicht angehen kann, dem Verteidiger ein derart scharfes Schwert wie das Notwehrrecht zuzugestehen.
Eine Notwendigkeit für einen Perspektivwechsel innerhalb der Notwehrlage besteht folglich nicht. Es erscheint letztlich sinnvoller, das gesamte Vorliegen einer Notwehrlage einheitlich ex-post zu prüfen und nicht bei der Gegenwärtigkeit eine Ausnahme zu machen.
Der Verteidigungswille und weitere Motive
Ein weiterer Aspekt des Urteils betrifft den Verteidigungswillen und die Frage, inwieweit auch andere Handlungsmotive vorliegen dürfen, ohne dass der Verteidiger des Notwehrrechts verlustig geht. Neben der objektiven Notwehrlage ist auch das subjektive Rechtfertigungselement, auch Verteidigungswille genannt, für eine Rechtfertigung nach § 32 StGB notwendig. Der Täter muss nach der herrschenden Meinung die Absicht im Sinne eines zielgerichteten Wollens haben, den Angriff abzuwehren oder zumindest abzuschwächen (BeckOK-Momsen/Savic, StGB, 58. Ed. (2023), § 32 Rn. 46).
Im konkreten Fall kann es jedoch vorkommen, dass der Angegriffene nicht allein zur Verteidigung handelt. Wie im vorliegenden Fall können auch weitere Motive wie Hass oder Wut hinzutreten. Nach Auffassung des BGH ist entscheidend, dass der Verteidigungswille nicht hinter den anderen Beweggründen in den Hintergrund rückt (hierzu auch BeckOK-Momsen/Savic, StGB, 58 Ed. (2023), § 32 Rn. 46). Genau diese Feststellung ist in der Praxis oftmals herausfordernd. Die Bestimmung, inwieweit andere Beweggründe in welcher Intensität vorgelegen haben, kann Schwierigkeiten bereiten. Vor allem in Fällen, bei denen sich Täter und Opfer kannten und eine bereits negative Vorgeschichte hatten, ist nicht auszuschließen, dass bei einer Verteidigung immer auch weitere Motive eine Rolle spielen. Wie dominant und ausschlaggebend diese im konkreten Moment der Verteidigung waren, kann im Nachhinein oft nicht beurteilt werden. Ein Verteidiger könnte sich gegen einen Angriff auch aus Rachegründen mit vorgeschobenem Verteidigungswille zu Wehr setzen.
Diese Überlegungen rechtfertigen dennoch nicht, das Notwehrrecht bei weiteren Motiven zu versagen. In Fällen wie dem vorliegenden ist es verständlich und menschlich, dass bei einer solchen Vorgeschichte auch Hass und Wut die Abwehrhandlung leiten. Entsteht die Notwehrlage in einer Streitsituation, kann nicht ausgeschlossen werden, dass zumindest ein Teil des Motivs verteidigungsfremd ist.
Entfiele bei jedem Hinzutreten weiterer Motive der Verteidigungswill, müsste die Berufung auf das Notwehrrecht in zahlreichen Fällen versagt werden. Dies erscheint nicht sachgerecht, sofern die Verteidigungsabsicht innerhalb des Motivbündels dennoch dominiert, weshalb dem BGH in seiner Ansicht zuzustimmen ist.
Schlussbetrachtung
Die Zurückweisung der Revision ist somit nachvollziehbar und gut begründet. Der Angriff war gegenwärtig und auch die Verteidigungsabsicht lag trotz weiterer Motive vor.
Die vom BGH verwendeten Maßstäbe zur Beurteilung des gegenwärtigen Angriffes überzeugen mehr als die von Teilen der Literatur vertretene Ansicht.
Des Weiteren ist nach der Entscheidung des BGH auch die Notwehrhandlung erforderlich und geboten gewesen. Hierbei ist insbesondere darauf hinzuweisen, dass eine sozialethische Einschränkung des Notwehrrechts wegen eines familiären Näheverhältnisses nicht angenommen wurde, weil das Verhältnis zwischen dem Angeklagten und dem Geschädigten zerrüttet war.
Die Entscheidung des BGH ist für die Ausbildung und Praxis bedeutsam, weil sie Kernprobleme des Notwehrrechts behandelt und die hierzu entwickelten Grundsätze bestätigt. Sie dürfte sich auch für eine Abwandlung anbieten, in der ein Erlaubnistatbestandsirrtum zum Gegenstand der Prüfung gemacht werden könnte.
von stud. iur. Jenny Lindemann
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